Ich werde alt von Fritzi Fromm

5. Mai 2018. Alt sind immer nur die anderen
Wir altern ja ab dem Tag unserer Geburt. Zunächst kriegt man das gar nicht so mit, ja eigentlich können wir es nicht erwarten, endlich älter zu sein und sich so blöde Sprüche wie: „Dafür bist du noch zu klein!“ nicht mehr anhören zu müssen. Das Alter ist also relativ. Mir also war es ganz recht, in meiner Jugend für älter gehalten zu werden, mit 14 wie 18 auszusehen und somit unproblematisch in die Disco gehen zu dürfen. Ja, da kam ich mir doch sehr erwachsen vor, Zigaretten rauchend und Kaffee trinkend im Straßencafé zu sitzen und mit den männlichen Passanten zu flirten.
Zum Glück hat sich das mit zunehmendem Alter relativiert: Je älter ich wurde, desto jugendlicher sah ich aus, ging mit Mitte 40 noch für Mitte 30 durch. Und dank guter Gene und einer gesunden Fettschicht habe ich nun auch mit Mitte 60 noch immer eine fast faltenfreie Haut. Man sieht mir also das Alter kaum an, behandelt mich dementsprechend auch nicht meinem Alter gemäß. Wenn ich etwa eine Verkäuferin bat, mir das Kleingedruckte auf einem Etikett vorzulesen, sah die mich ungläubig an, wahrscheinlich Schikane vermutend. Dabei hatte ich nur meine Lesebrille vergessen. Im Zug wurde mir kein Sitzplatz angeboten, auch wenn ich mit meinen arthritischen Knien kaum stehen konnte.

25. Juni 2018. Mit Haut und Haaren
Auch deshalb sind meine Haare nun grau, seit ich sie nicht mehr färbe. Mit meinem Ausstieg aus dem Berufsleben habe ich mich von der lästigen Färberei befreit, muss mich nun nicht mehr an den jungen, konkurrierenden Kolleginnen messen lassen. Der Schritt fiel mir nicht leicht, war das doch für mich ein Sprung in das kalte Wasser und in die harte Realität des Alters.
Ach ja, zum Thema Haare: Die wachsen ja nun bei mir an den unmöglichsten Stellen, vor allem im Gesicht. Während die Haare oben auf dem Kopf immer weniger werden, nimmt mein Bartwuchs rasant zu – zu viel Testosteron wahrscheinlich. Da bekommt der Ausdruck „Haare auf den Zähnen“ eine ganz neue Bedeutung. Das fehlende Östrogen bewirkt aber auch den Rückgang der Elastizität mancher Hautpartien, vor allem in den unteren Regionen – die Haut im Intimbereich wird dünn und rissig. An Sex ohne fördernde Hilfsmittel ist so überhaupt nicht mehr zu denken (und ich will keine Östrogen-Creme nehmen).

26. September 2018. Die Wehwehchen nehmen zu
Es ist schon gemein, wie viele Schmerzpunkte so ein Körper zu bieten hat: Dass der Rücken weh tut, ist ab einem bestimmten Alter ja ganz normal. Vor allem, wenn man keinen Sport treibt, so wie ich. Doch die Verschleißerscheinungen machen sich im ganzen Körper bemerkbar. Von Exzessen wie übermäßigem Alkoholkonsum oder fettem Essen will ich ja gar nicht reden, die nimmt der Körper tagelang dermaßen übel, sodass man freiwillig auf diese leiblichen Genüsse verzichtet. Denn Kopf- und Magenschmerzen beeinträchtigen mehr als nur das Wohlbefinden. Nein, ich spreche von einem Glas Wein oder einem Bierchen, einem Stück Sahnetorte, die ich mit üblem Sodbrennen büßen muss. So vieles macht einfach keinen Spaß mehr. Ich bin also dankbar für kleine Freuden, einen Schmetterling, Sonne auf der Haut.
Apropos Sonne: Die muss man ja nicht nur mit Faltenbildung büßen, die Altersflecken auch im Gesicht zeigen an, dass auch die Pigmentierung sich verändert hat.
Auch die Augen lassen nach. Ganz normal, meinte ich, bis der Augenarzt grauen Star diagnostizierte und mich vor gut zweieinhalb Jahren operierte. Seitdem tränen meine Augen, sind rot und verklebt. Auch eine Odyssee durch die verschiedensten Arztpraxen brachte keine Linderung. Nun hat mein Hautarzt gemeint, ich hätte Rosazea in den Augen und hat mir eine dreiwöchige Antibiotika-Kur verschrieben. Während dieser Zeit ging es meinen Augen tatsächlich besser, abgesehen von den Nebenwirkungen des Antibiotikums – die im Beipackzettel des Medikaments als mögliche Nebenwirkung genannte „Schwarze Haarzunge“ geistert seitdem durch meine Alpträume.
Dass meine Zähne kariös sind, mag ja auch meinem Heranwachsen in der Nachkriegszeit geschuldet sein – meine Mutter hat es bestimmt nur gut gemeint, wenn sie jeden meiner Zahnarztbesuche mit einem Stück Kuchen belohnte. Doch dass die Zahnwurzeln nun vereitert sind und den Kiefer anfressen, habe ich nicht verdient. Ich will ich meine Zähne doch behalten!
Und doch mucken sie immer öfter auf und machen sich durch rasende Schmerzen bemerkbar. Dank Homöopathie habe ich zuletzt meine Schmerzen in den Griff bekommen – ich will meinem Körper nicht schon wieder konventionelle Medikamente zumuten.

7. Dezember 2018. Kaffee oder Tee
Das Alter lässt sich nicht aufhalten, auch nicht mit Rohkost oder veganer Lebensführung. Den Jungbrunnen hat noch niemand entdeckt, weder Tinkturen noch Pülverchen helfen uns dabei, ein langes und erfülltes Leben zu führen. Lassen wir uns nicht dazu verführen, irgendwelchen geschäftstüchtigen Heilsbringern zu vertrauen, die doch nur ihre Ideologien (samt Mittelchen) verkaufen möchten.
Ich esse und trinke, was mir bekommt und Spaß macht. Ich bin kein schlechterer Mensch, wenn ich ein paar Pfund zu viel auf den Rippen habe. Der Spaß darf nicht zu kurz kommen, so viel Freiheit erlaube ich mir. Auch wenn mein Kaffee koffeinfrei ist, und ich Roibusch- oder Kräutertee nicht ausstehen kann.

8. Januar 2019. Bauch, Beine, Po
Die Sache mit der Schwerkraft muss uns nicht Isaak Newton erklären – die Spannkraft der Haut lässt nach, alle außen liegenden Körperpartien streben mit der Zeit dem Erdboden zu. Speziell der Speckgürtel rund um die Taille nimmt Formen an, die sich selbst mit einem Hüftgürtel nicht mehr eindämmen lassen. Ist Ihnen das auch schon mal passiert, dass der eingezwängte Bauch sich wehrt und den Body nach oben rollt? Nicht sehr witzig! Kein Wunder, dass also wir älteren Frauen diese Körperregion mit darüber hängenden Westen zu vertuschen suchen.
Überhaupt, was soll ich noch anziehen? Darf ich meinen ausladenden Leib wirklich noch in jugendliche Klamotten wie Jeans und Pullover zwängen? Immerhin lassen sich so die Orangenhaut-Dellen an Oberschenkeln und Hintern vertuschen. Im Badeanzug würde ich mich gar nicht mehr zeigen wollen, ein Bikini ist eine Illusion, auch wenn die Venus von Willendorf mal als Schönheitsideal galt – aber das ist 30.000 Jahre her.

29. Januar 2019. Die senile Bettflucht
Schlafen war eigentlich immer eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Jetzt ist für mich die Nacht manchmal schon um vier Uhr Früh zu Ende. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann einfach nicht mehr einschlafen. Dann liege ich in meinem Bett herum und meine Gedanken fangen an zu kreisen, vornehmlich um Dinge aus meiner Vergangenheit, oft unschöne Erinnerungen, die ich gar nicht mehr hervorholen möchte. Dann stehe ich halt auf und spiele ein bisschen am Computer.
Dafür nicke ich dann tagsüber öfter mal ein – so ein Nachmittagsschläfchen soll ja gesund sein. Ich merke, wie wichtig es ist, dem Tag eine Struktur zu geben, sich selbst immer wieder Aufgaben zu stellen. Sonst drifte ich ganz rasch in ein Chaos ab.
Mein Mann ist ja schon länger in Rente. Da mochte ich es gar nicht glauben, dass er oft nicht wusste, welchen Tag wir eigentlich hatten, und vermutete schon erste Anzeichen von Senilität. Heute weiß ich es besser – man verliert einfach jedes Zeitgefühl, wenn die Tage nicht mehr von Arbeitswelt und Freizeit, Alltag und Wochenende geprägt werden. Feste Rhythmen werden immer notwendiger.

17. Februar 2019. Wie die Zeit vergeht
Dank vermehrter Tagesfreizeit komme ich nicht umhin, auch mehr meiner eigentlich kostbaren Zeit lethargisch vor der Glotze zu verbringen. Sender wie Sat 1 Gold haben diesen Trend erkannt und beglücken die meist weiblichen Zuschauer mit alten Serien. Das ist dann so als schaute ich in einen Spiegel: Wir alle waren mal jung und hübsch und sind miteinander älter geworden. So erkennt man manche Schauspielerinnen und Schauspieler in aktuellen Filmen oder Serien kaum wieder, haben sie ihre Gesichter oder Körper dermaßen mit Operationen oder Botox verschandelt, dass sie sich zur eigenen Witzfigur gewandelt haben. Dann lieber in Würde altern!

22. Februar 2019. Nichts anbrennen lassen!
Mir passiert so etwas nie!, habe ich immer gedacht. Und nun ist es mir schon dreimal passiert, dass ich einen Topf auf voller Flamme auf dem Herd vergessen habe. Erst gestern ist mir wieder ein Gericht verkohlt, habe ich doch statt der Platte, die ich eigentlich runter drehen wollte, die daneben liegende auf kleiner Flamme angemacht. Und das Apfelmus daneben auf voller Flamme verkokeln lassen. Zum Glück funktionieren meine neuen Rauchmelder jetzt schon früher, sodass nicht mehr das ganze Haus verqualmt war, sondern nur das Erdgeschoss!
Neulich habe ich mindestens fünf Minuten lang nach meiner Brille gesucht, bin treppauf, treppab gerannt. Schließlich fand ich sie: auf meiner Nase. Das tut ja schon weh!

6. Mai 2019. Was man nicht im Kopf hat, …
Das ist Ihnen bestimmt auch schon passiert: Ich gehe in den Keller und weiß nicht mehr, was ich dort holen wollte. Erst wenn ich wieder oben bin, fällt’s mir ein. Oder ich vergesse irgendwas, was ich eigentlich mitnehmen wollte. Namen konnte ich mir noch nie gut merken, Fachausdrücke, ja selbst einfache Begriffe verschwinden aus meinem Gedächtnis. Wenn ich die Sache dann umschreibe, findet sich fast immer ein hilfreiches Gegenüber, dem der Begriff dann einfällt.

18. Juni 2019. Träume sind Schäume?
Heute Nacht hatte ich einen sehr erhellenden Traum. Ich fuhr mit dem Fahrrad durch eine Stadt, eine Strecke, die ich schon oft gefahren war. Als ich wieder nach Hause zurückfahren wollte, war die mir vertraute Strecke wegen Baumaßnahmen gesperrt und ich musste eine Umleitung fahren, die mich in völlig unbekannte Gegenden führte. Ich kannte mich überhaupt nicht mehr aus. Plötzlich befand ich mich auf einer stark abfallenden einspurigen Einbahnstraße, sodass ich sehr stark bremsen musste, um nicht immer schneller bergab zu fahren. Ich dachte noch: Wie komme ich diesen Berg wieder hoch? Doch es ging immer nur bergab, keine Chance, wieder zurückzukommen. Mit diesem Gefühl der Orientierungslosigkeit und Verlorenheit bin ich aufgewacht.
Ja, genauso fühle ich mich momentan. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Es gibt keinen Weg zurück. Nur noch abwärts!

5. September 2019. Neues lernen, Wissen weitergeben
Dabei kann ich viele Dinge ja noch ganz gut. So bin ich immer noch neugierig, auf neue Technologien zum Beispiel. Ich nutze das Internet und recherchiere Zusammenhänge im weltweiten Web. Da kommt mir meine berufliche Erfahrung sehr gelegen, auch dort musste ich immer nach Neuem suchen.
Manchmal muss ich schon schmunzeln, wenn mir jüngere Leute begeistert ihre Erkenntnisse mitteilen – das habe ich vor 30 Jahren auch schon so gemacht, für mich ist so vieles nicht mehr neu. Vielleicht fragen die Jungen einfach mal die Älteren, man muss das Rad ja nicht immer neu erfinden.

31. Oktober 2019. Erinnerungen
Je älter ich werde desto mehr kommen die alten Zeiten in meinen Gedanken zurück. Gerade, wenn ich nachts wach liege, muss ich an viele Ereignisse aus meiner Kindheit denken, die mich sehr geprägt und meinen Lebensweg bestimmt haben.

In der Grundschule hatte ich eine allerbeste Freundin, nennen wir sie mal Sandra. Wir wohnten nicht weit voneinander, waren nach der Schule unzertrennlich, haben gemeinsam gespielt, hielten uns beim Laufen an den Händen und verbrachten viel Zeit in unseren jeweiligen Kinderzimmern.
Eines Tages waren wir auf dem Weg zu meiner Wohnung. Sandra hatte ihre neue Puppe im Arm, als sie vor dem Überqueren der Hauptstraße am Bordstein stolperte und die Puppe fallen ließ, deren Porzellankopf eine deutliche Macke davontrug.
Ich dachte gar nicht mehr an dieses Vorfall, als ich am nächsten Nachmittag Sandra besuchen wollte, und mich ihre Mutter an der Wohnungstür mit folgenden Worten empfing: „Warum hast du Sandras Puppe kaputt gemacht?“ Ob dieser ungerechten Beschuldigung schossen mir die Tränen in die Augen, ich dreht mich auf dem Absatz um und lief nachhause. Ich hatte schon verstanden, dass Sandra zu ihrem Schutz gelogen hatte, da sie eine Strafe ihrer Mutter für den Verlust der teuren Puppe fürchtete, doch ich habe nie mehr ein Wort mit Sandra gesprochen, so enttäuscht war ich von ihr.
Dieser Vorfall hatte üble Folgen für mich: Sandra fing an, mich in der Schule zu mobben, diffamierte mich, erfand unwahre Geschichten, die unsere Klassenkameradinnen gegen mich aufbrachten, sodass eine ganze Horde Kinder nach der Schule hinter mir her rannte, um mich zu verhauen. Da ich als Kind sehr zart war, habe ich mich nie gewehrt. Allerdings wurde ich zu einer Einzelgängerin, hatte nur ein/zwei gute Freundinnen, eine Clique war mir nicht mehr wichtig.

Ein Mädchen stand mir damals bei. Da sie sehr nahe an der Grundschule wohnte, liefen wir stets gemeinsam zu ihr nachhause, wo ich dann abwarten konnte, bis sich die Verfolgerinnen zerstreut hatten. Aus dieser Hilfe und Unterstützung entstand eine neue Freundschaft, die während der gesamten Grundschulzeit anhielt. Ich habe dieses Mädchen vor Kurzem im Internet gesucht, und da sie ihren Mädchennamen behalten hat, auch gefunden. Sie arbeitet als Chefärztin in der Schweiz, und wir wollen uns in Kürze einmal treffen.
Ich weiß nicht, ob sich Sandra darüber im Klaren war und ist, was sie mir damals vor 60 Jahren angetan hat. Denn das Mobbing hat mich durch mein ganzes Leben begleitet, sowohl im Privaten als auch im Berufsleben. Ich bin immer noch sprachlos, wenn jemand Lügen über mich erzählt, da schnürt sich mein Hals zu und noch immer schießen mir Tränen in die Augen.

9. März 2020. Fertigkeiten
Was hat das zu bedeuten, dass mir immer öfter Gegenstände aus den Händen entgleiten, ich sie nicht mehr festhalten kann? Lässt wirklich schon die Kraft nach? Oder hat die Arthrose meine Fingergelenke schon so geschwächt? Da nützt auch beherztes Zugreifen nichts mehr! Eine der vielen Fähigkeiten, die nachlassen oder gar ganz verschwinden.
In diesem Jahr bin ich binnen zweier Monate schon zweimal schwer gestürzt. Zum Glück war nur mein Ego angeknackst, nicht aber meine Knochen. Das erste Mal wollte ich nur mal schnell auf einen Stuhl steigen, um rasch etwas von der Wand zu nehmen, und habe das Gleichgewicht verloren, bin hinterrücks auf mein Steißbein gefallen. Vor einem Sturz die Kellertreppe hinunter hat mich nur das Geländer bewahrt.
Das zweite Mal wollte ich im Theater aus der Sitzreihe treten und habe die Stufen übersehen, sodass ich wie ein gefällter Baum seitlich der Länge nach hingefallen bin. Auch hier waren großflächige Hämatome die Folge.
Das heißt also für mich: achtsam sein und langsam und mit Bedacht handeln. Mal rasch irgendwo hin springen, das klappt nicht mehr.

11. April 2020. Sich selbst verzeihen
Viele Ereignisse verklären sich ja in der Erinnerung, vieles habe ich auch vergessen oder verdrängt, was mir erst jetzt wieder in den Sinn kommt. Und das sind beileibe nicht nur gute Erinnerungen. So viele Dinge habe ich falsch gemacht, mir so vieles gewünscht, was sich im Nachhinein dann als total falsche Entscheidung herausgestellt hat, die nicht mehr zu revidieren war.
Sich allerdings mit „Was wäre gewesen, wenn“-Fragen herumzuplagen, macht einem das Leben nicht gerade leichter. Natürlich weiß auch ich, dass wir im Hier und Jetzt leben sollten, und doch fällt es mir manchmal sehr schwer, diese unguten Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln. Denn eigentlich geht es mir gesundheitlich einigermaßen gut, ich habe mein Auskommen, bräuchte keine Angst vor der Zukunft haben. Vielleicht ist es ja genau dieses Gefühl, nicht mehr alles im Griff zu haben. Wenn Freunde und Bekannte plötzlich krank werden oder gar sterben, kriecht auch mir die Furcht vor der Ungewissheit der Zukunft den Rücken hinauf. Das geht uns bestimmt allen so.

16. Mai 2020. Sich neu erfinden
Es gilt also, die alten Vorlieben, ja selbst Sicherheiten über Bord zu werfen im Alter. Plötzlich andere Dinge wert zu schätzen, neue Interessen zu entwickeln. Wir haben so viele Erfahrungen gemacht im Laufe unseres Lebens, so viele Skills erworben, die nun nicht ungenutzt verkümmern sollten. Vieles wird nicht mehr so früher sein, das wird es nie wieder. Aber wir haben noch so viel zu geben, ganz egal, was wir machen wollen. Denn nur wer rastet, der rostet! Ich finde es sehr tröstlich zu wissen, dass ich mich auch heute noch ändern kann, wenn ich das wirklich will, so lange ich lebe.
Vielleicht ist es ja wirklich so, dass das Alter uns mehr Weisheit und Toleranz schenkt. Wir müssen uns nicht(s) mehr beweisen, können ein paar Gänge zurückschalten, dürfen alles ruhiger angehen.

3. Juni 2020. Gelassenheit
Das Alter ist eine Lebensphase, in der wir nicht mehr so funktionieren müssen wie ein Uhrwerk – denkt man, oder? Ich finde mich (meistens) eigentlich ziemlich gelassen, seit ich nicht mehr täglich in der Arbeitswelt meine Frau stehen muss. Das dachte ich. Bis ich gemerkt habe, dass mich unerwartete und unvorhersehbare Ereignisse emotional richtig aus der Bahn werfen können.
Kurz vor Pfingsten wollte ich online vormittags an einem Webinar teilnehmen, zu dem ich mich angemeldet hatte. Die Voraussetzungen zur Seminarteilnahme hatte ich überprüft, alles bestens. Am Morgen des Tages dann wollte ich gleich in der Früh meine Mails abrufen – kein Internet und kein Telefonanschluss! Hastig checkte ich den Router, der nur verzweifelt blinkte. Mist, dachte ich, nun ist der Router kaputt, und ich versuchte über mein Smartphone die Hotline des Providers zu erreichen. „Alle Leitungen sind besetzt, versuchen Sie es später noch einmal“, war die einzige Auskunft, die ich bekam. Besonders perfide finde ich die Ansage, man könne sich ja auch im Internet über mögliche Versagens-Gründe informieren!? Hallo, ohne Internet!?
Und bei jedem Anruf wird man wieder nach der Kundennummer sowie dem Grund des Anrufs gefragt, einfach nur lästig. Nach dem sechsten Anruf hatte ich die Schnauze voll und blieb einfach in der Leitung. Und wirklich, nach circa zehn Minuten meldete sich ein menschliches Wesen und fragte nach dem Grund meines Anrufs. Nach einem externen Blick auf meinen Router stellte der Experte fest, dass dieser in Ordnung sein (so ein Glück), dass der Fehler beim Provider lag, man aber schon an dessen Beseitigung arbeite. Allerdings stünde das Internet erst wieder am späten Vormittag zur Verfügung (so ein Mist).
Immerhin war ich froh, dass ich (voraussichtlich) über Pfingsten nicht ohne Internet und Telefon dastehen würde. Die Tatsache allerdings, dass ich mich durch diesen Vorfall so heftig aus der Bahn geworfen fühlte, hat mich schon richtig beunruhigt. Es war also doch nicht so weit her mit meiner Gelassenheit!

12. September 2020. Corona und die Einsamkeit
Ich habe Glück in diesen beunruhigenden Corona-Zeiten: Ich bin nicht allein. Wie einsam man sein kann, wenn man sich nicht besuchen darf, kein Lokal , Theater, Kino oder Museum geöffnet ist, das haben viele meiner FreundInnen während des Lockdowns schmerzlich erfahren müssen. Da hilft nur, per Telefon oder neue Medien in Verbindung bleiben. Für viele ist das leichter gesagt also getan. Ein Grund mehr, dass wir uns mit all den Möglichkeiten, die Smartphone und Internet bieten, vertraut machen – Angebote gibt es ja mittlerweile viele.
Wir merken erst jetzt, wie gut es uns all die Jahre gegangen ist. Alles war möglich und so einfach für Geld zu haben.
Dass dieses Virus zunächst gerade die Älteren getroffen hat, hat auch mit unserer Verletzlichkeit zu tun. Zu viele Schäden, die das Leben bereits hinterlassen hat. Und eine Erinnerung daran, dass wir mit uns besonders sorgsam umgehen müssen.

Fritzi Fromm